DFB-Kapitän
"Müssen uns vertrauen können": Gündogan liest Teamkollegen die Leviten

2016 verabschiedete sich Bastian Schweinsteiger unter Tränen als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Ein emotionaler Moment - seitdem bekommt man von deutschen Nationalspielern meist Floskeln auf Pressekonferenzen und in der Mixed Zone serviert. An diesem Montag, sicherlich in einer sehr ernsten Situation für die deutsche Nationalmannschaft, hat der neue Kapitän Ilkay Gündogan schonungslos seine Mitspieler im DFB-Team kritisiert.
"Mix aus Trauer und Frust"
Gleich zu Beginn sagte Gündogan auf der Pressekonferenz vor dem Länderspiel gegen Frankreich zur Entlassung von Bundestrainer Hansi Flick: "Die Stimmung in der Mannschaft ist ein Mix aus Trauer, Frust und Enttäuschung. Ich habe das Gefühl, Hansi im Stich gelassen zu haben. Das geht einigen Spielern genauso." Die Botschaft: Die Spieler haben im Trikot der Nationalmannschaft nicht alles auf dem Platz gegeben. Dafür mussste der Trainer büßen. Gündogan forderte deshalb für das Frankreich-Spiel am Dienstagabend in Dortmund: "Wir wollen unsere individuellen Fehler abstellen. Ich glaube es ist jetzt mal wichtig, auch ein ordetliches Ergebnis zu erzielen."
Doch Gündogan wollte es nicht bei diesen Aussagen belassen, mutig setzte er zur Generalkritik an. So geht es ihm auch darum, dass schon im Vorfeld von Länderspiel-Perioden die Spieler offenbar nicht alles dafür tun, um in Topverfassung zur Nationalmannschaft zu kommen. "Am Ende des Tages dürfen wir uns nicht selbst überschätzen, wir müssen uns hinterfragen! Jeder einzelne Spieler muss sich fragen, ob er alles tut, um topfit in die Spiele zu gehen", so Gündogan.
Zudem fehlt Gündogan offenbar der Teamspirit in der Mannschaft. "Es geht nur alls Kollektiv. Deutschland hatte nicht immer Weltklasse-Spieler, aber es war immer eine Weltklasse-Mannschaft." Nun sei es quasi umgekehrt: "Jetzt haben wir viele Spieler auf Weltklasse-Niveau, aber wir schaffen es nicht, das als Mannschaft auf den Platz zu bringen."
"Positive Grundstimmung, aber..."
Gündogan tauchte tiefer in das Thema ein. Er forderte von seinen Teamkollegen, sich mehr auf dem Platz zu wehren, emotionaler zu werden und einen größeren Zusammenhalt zu kreieren. Im Team fehle es an gegenseitigem Vertrauen, so der aktuelle Star des FC Barcelona. "Wir müssen uns auf dem Platz zu 100 Prozent vertrauen können. Das geht neben dem Platz weiter. Obwohl es eine positive Grundstimmung gibt, können wir das auch noch besser machen. Wir können eine bessere Einheit sein." So betonte Gündogan auch: "Wenn wir Fehler machen auf dem Platz, dürfen wir sie nicht einfach so hinnehmen. Das fehlt so ein bisschen." Gündogan lieferte ein persönliches Beispiel aus der vergangenen Saison, als er als Kapitän mit Manchester City das Triple gewonnen hatte. "Ich habe bei City viele Fehler gemacht, aber ich und meine Mitspieler haben probiert, die Fehler auszubügeln. Wir konnten uns gegenseitig auf uns verlassen. Das ist nun hier die größte Aufgabe."
Und Gündogan war immer noch nicht fertig. Auf eine weitere Nachfrage versicherte er, dass es keine zwischenmenschlichen Probleme im Team gebe, aber: "Es gibt Barrieren, es gibt Scheu. Nicht jeder lebt sich so aus, wie er das im Privaten oder auch bei seinem Verein kennt. Gerade jüngere Spieler haben nicht den Mut, sich zu entfalten - weder im Training noch außerhalb des Platzes."
So viel offene und ehrliche Worte von einem deutschen Nationalspieler auf einer Pressekonferenz - das hat es die letzten Jahre kaum oder gar nicht gegeben. Womöglich war diese Pressekonferenz auch die Geburtsstunde eines neuen Nationalmannschaftskapitäns, der im Vergleich zum seit 2017 fast dauerverletzten Manuel Neuer sich nachhaltig um die Mannschaft kümmern kann und auch das Wort ergreift, wenn es nötig ist - intern wie öffentlich.
